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ERP-Systeme erfolgreich einsetzen
Prozessaufnahme und –optimierung
Die Bedeutung der Prozesse eines Unternehmens für ein ERP-Projekt wurde bereits mehrfach hervorgehoben. Prozesse spielen bei der Auswahl und beim Betrieb eines ERP-Systems einewichtige Rolle. Bei der Inbetriebnahme eines ERP-Systems werden die aktuellen Prozesse im System abgebildet. Prozesse verändern sich aber im Lauf der Zeit und so entsteht der Bedarf, permanent zu prüfen, ob die Prozesse noch optimal durch das ERP-System unterstützt werden. Genau diese Aufgabe sollten die Keyuser, die bei ERP-Auswahl eine große Rolle gespielt haben, später übernehmen. Sie haben hohe Kenntnis über die Möglichkeiten des ERP-Systems und können schnell und effizient prüfen, ob Veränderungen in der Abbildung der Prozesse im ERP-System notwendig sind und welche Maßnahmen dies erfordert. Des Weiteren haben die Keyuser durch die Prozessanalyse und -optimierung während der ERP-Auswahl gelernt, wie man Prozesse durch die ERP-Brille betrachtet und wann die Notwendigkeit besteht, im System einzugreifen oder Anwender zu schulen.
Die Qualität der Aufnahme der Prozesse ist entscheidend für die Qualität der ERP-Auswahl. Nun besteht das Problem, dass die Mitarbeiter eines Unternehmens seit Jahren an die bestehenden Prozesse gewöhnt sind und die Besonderheiten der Prozesse im Hinblick auf die Abbildbarkeit in einem ERP-System nicht erkennen. Mitarbeiter sind tendenziell eher bestrebt, die bestehenden Prozesse in einem ERP-System unverändert abzubilden und nicht mehr zu hinterfragen. Hinzu kommt oft das fehlende Wissen, welche Möglichkeiten ERP-Systeme im Standard bieten, um Geschäftsvorfälle abzubilden. In meinen Gesprächen fallen oft Aussagen wie: „Unser Einkauf hat keine speziellen Anforderungen, die Anforderungen sollte ein ERP-System ohne Probleme erfüllen können“. Diese Annahme ist in der Regel leider falsch. Ich stelle dann meist die Frage, ob man auch mit Zu- und Abschlägen arbeitet, also z.B. mit Mindermengenzuschlägen und Rabatten. Diese Frage wird dann mit „ja“ und dem Zusatz „das müssten doch alle ERP-Systeme können“ beantwortet. Der Mitarbeiter hat fast Recht, ich stelle dann die Frage, ob man auch Frästeile bei externen Lieferanten fertigen lässt.
Wenn dies der Fall ist, frage ich nach, wie man die Einmalkosten für die NC-Programmerstellung abbildet. Die Antwort kommt schnell: „Über einen Zuschlag“. Nun sind wir auf der Ebene angekommen, die für eine ERP-Auswahl und die Aufnahme der Prozesse entscheidend ist. Oft ist dieser Zuschlag ein fester Betrag und kein prozentualer Wert. Dies wäre schon die erste funktionale Anforderung, die sich aus dem Gespräch ableiten lässt. Denn es ist nicht selbstverständlich, dass alle ERP-Systeme einen Zuschlag als fixen Betrag oder alternativ als prozentualen Wert auf den Bestellpreis abbilden können. Das Thema ist dennoch immer noch nicht zufriedenstellend behandelt worden. Meist werden die Zuschläge in den Lieferantenbeziehungen des ERP-Systems gespeichert und bei der nächsten Bestellung von Frästeilen wieder in der Bestellposition vorbelegt. Dies ist meist auch in dem alten ERP-System so und wird mit dem Hinweis „wir nehmen den Zuschlag dann manuell raus“ kommentiert. Wenn ich frage, ob man das auch mal vergisst, kommt nicht selten die Antwort: „Ja, das kommt schon vor“. Wenn die Beschaffung von Frästeilen ein Kernprozess ist, wäre dies die zweite abzufragende funktionale Anforderung an ein ERP-System bezogen auf Zu- und Abschläge. Man muss abfragen, ob das System auch mit Einmalzuschlägen umgehen kann.
Man sollte dem ERP-Hersteller nicht den Lösungsweg vorschreiben, sondern das Problem beschreiben, da es verschiedenen Möglichkeiten gibt, Anforderungen in einem ERP-System abzubilden. Auf dieser Ebene müssen die Prozesse aufgenommen und die benötigte Funktionalität abgeleitet werden. Wäre der Gesprächspartner in diesem Fall nun nicht ich, sondern ein interner Mitarbeiter gewesen, hätte man die Anforderungen an Zu- und Abschläge wahrscheinlich nicht in diesem Detaillierungsgrad aufgenommen, da man an dieser Stelle keine besondere Herausforderung an ein ERP-System erkannt hätte.